Freitag, 30. Januar 2015

WK | Der stehende Sturm (2005) - Eine Voranzeige des Autors

Wolfgang Kaempfer
Der stehende Sturm
Zur Dynamik gesellschaftlicher Selbstauflösung und kollektiver Regression (1600-2000)
Kadmos, 2005


sturm


Im Rätseljahr 1799 gelangt Napoleon durch Staatsstreich an die Macht (und erobert in einer Folge von blitzartigen Feldzügen fast ganz Europa); schreibt Wilhelm Heinrich Wackenroder die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (und leitet damit die romantische Bewegung ein); verdächtigt Friedrich Heinrich Jacobi in einem offenen Sendschreiben den absoluten Idealismus Fichtes des Nihilismus.


Die „Arbeit des Begriffs“ (Hegel) schien vom Boden abgehoben, die Zeit zum Fluge angesetzt zu haben. Offenbar galt das jetzt nicht mehr allein für denkgeschichtliche, sondern zugleich für realgeschichtliche Prozesse, und so werden sich auch diese allmählich den modernen „Nullsummenspielen“ annähern. Als Napoleon kapitulierte, hatte Frankreichs Staatsgebiet um so gut wie keinen Quadratmeter zugelegt, Land und Leute waren zu Tode erschöpft und brauchten mehrere Generationen, um sich wieder zu erholen.


Die doppelte Orientierung Alteuropas in zwei Richtungen, in eine romantische vergangene und eine progressive künftige, lud nur scheinbar zur Wahl ein. In Wahrheit operierte sie wie Fichte mit abstracta, die sowohl allen Inhalt unter sich „befassen“ als ihn auch wieder „aus sich hervorgehen lassen“ konnte (Jacobi). Die Nomina Vergangenheit und Zukunft entstanden erst auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Bis heute sitzen die Abgeordneten des französischen Parlaments rechts und links vom Stuhl des Parlamentspräsidenten, bis heute sucht der konservative Flügel Fortschritt und Emanzipation, der progressive Flügel die latente gesellschaftliche Stagnation einzuklagen. Zwei unvereinbare Postulate, beide mit gleicher Stringenz erhoben - mit der Stringenz von „Kategorien“ - sind in einen Regelkreis geraten, in dem sie auf ewig einander jagen, aber nicht erreichen konnten.



Aneignung


Der eigentümliche Ausdruck, der heute meist für Welt steht, der Ausdruck Umwelt, scheint ein Welt-Verhältnis auszudrücken, das den Akzent nicht aufs Objekt, sondern aufs Subjekt verlegt hat, auf die den Weltmittelpunkt einnehmende Monade. Diese scheint die Welt nicht mehr als gegebene, sondern als Ensemble von Varietäten zu verstehen, auf die sie zugreifen (die sie also auch verletzten oder zerstören) kann, dem Flaneur auf den Supermärkten dieser Welt vergleichbar. Das berühmte Denkmodell Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum (1845) scheint diesem Verhältnis Rechnung zu tragen, krankt aber am Begriff des Eigentums, der als statisch auslegt, was in Wirklichkeit dynamisch ist in einer Welt, die seit Generationen keinerlei festes Eigentum mehr gelten lassen konnte.


Ein perverseres System ist geschichtlich wahrscheinlich niemals beobachtet worden. Nicht das viel gescholtene Konkurrenzprinzip, ein weit virulenteres Movens treibt es an. Denn das „Aneignungsprinzip“, einmal in Gang gesetzt, könnte in der Tat nicht mehr zur Ruhe kommen. Es nährt sich ja aus der permanenten Angst vor Verlust.


Spaltung


Was ich den Bruch des Zeitgetriebes nannte, das könnte sich im öffentlichen Selbstverständnis zunächst als der Bruch gezeigt haben, in den die Parteienlandschaft zerfiel. Seit ca. 1800 sitzen die Abgeordneten des französischen Parlaments links und rechts vom Stuhl des Parlamentspräsidenten, seit ca. 1800 bilden sie die uns geläufige Opposition. Diese Opposition larviert in Wahrheit jedoch eine Spaltung, die im Innern der Parteien selbst verlief. So wie wir auf dem Flügel der Rechten den Antagonismus von Interesse und Konvention („Kapitalismus“ und „Tradition“) beobachten können, so auf dem Flügel der Linken den Antagonismus von sozialer und wirtschaftlicher Liberalisierung. Beide Parteien strebten eine mögliche Versöhnung dieser Forderungen an. Beide scheiterten daran, daß sie nicht de facto, sondern lediglich de jure miteinander vereinbar waren. Die beiden kontroversen Forderungen, beide mit gleicher Stringenz erhoben, mussten daher in einen Regelkreis geraten, in dem sie sich wechselseitig sowohl stimulieren als blockieren konnten.


Schulden - Schuld


Im profanen Schuldverhältnis verbirgt sich offenbar ein sehr viel älteres - ein sakrales - Schuldverhältnis, das seine eigentümliche Stringenz erklären könnte. Auch der profane der beiden Vertragspartner, der Geldgeber, der „Gläubiger“, setzt sich ja noch an die Stelle eines Schöpfers, welcher das Leben lediglich verleiht, welcher Opfer dafür fordert („Zinsen“), um es schließlich, einem „unerforschlichen Ratschluß“ zufolge, wieder zurückzunehmen.


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