Montag, 21. Oktober 2019

WK | Manchester

Einer der Ursprungsorte der ersten industriellen Revolution ist bekanntlich das Gebiet in und um die Stadt Manchester, und der Zufall wollte es, dass ich auf einigen privaten Reisen Bekanntschaft mit ihm machen konnte. Aber nicht von dieser „Reisebekanntschaft“ selbst sei abschließend hier berichtet, sondern von einem Ausflug, der mich in die ältesten, längst aufgegebenen Industriereviere führte. Auf den üblichen Karten waren sie natürlich nicht verzeichnet, ich konnte sie daher nur finden, weil mir die Namen der einschlägigen Bezirke bekannt waren. Wie überall auf der Welt, wo sich die Industrie von einem umgrenzten Gebiet, einem Arreal verabschiedet hat, das nicht mehr ihr Interesse findet, dessen Ressourcen erschöpft oder dessen Produkte nicht mehr an den Mann zu bringen sind, bildeten sie ausgedehnte Ruinenlandschaften, die mitunter direkt an unbebautes Gebiet, an die „Wildnis“ grenzten.

Ich traf auf so gut wie keinen Menschen. Katzen und hungrige Hunde schlichen umher. Aus einem blechernen Schornstein stieg eine dünne Rauchsäule auf, aus dem halb geöffneten Tor drangen Arbeitsgeräusche. Offenbar hatte sich dort jemand eine marginale Werkstatt eingerichtet. Die zentralen Arbeitshäuser, die Fabriken, die einstigen Sklavenställe, waren von erstaunlichem Ausmaß: fünf- bis siebenstöckig, so viel ich mich erinnere, meist wohlproportioniert, einige noch im klassizistischen Stil erbaut und an Kanäle grenzend, die einst den Transport gesichert hatten und in denen jetzt eine träge, ölig schimmernde Brühe stand. Riesige Fensterhöhlen, die oft über mehrere Stockwerke reichten, die Dächer offenbar seit langem eingestürzt, aber die Skelette, die Baukörper hatten sich erhalten und konnten sich mit den durchschnittlichen „Baudenkmälern“, vor denen wir bewundern stehen, durchaus messen. dass die „Bewunderer“, die Archäologen, die Fremdenführer usw. fehlten, gereichte ihnen in gewisser Weise sogar zum Vorteil. Keine Tabu-Zone, kein Berührungsverbot umgibt sie. Ähnlich den verfallenden Dörfern im Südgürtel Europas verfallen sie ungeschützt und ungehemmt, die Würde des Denkmals mit der Natur, der Grazie des Verfalls verbindend.

Ob mir eine gewisse Frage schon damals oder erst später durch den Sinn ging, lässt sich nicht mehr feststellen, nur die Frage hat sich erhalten, die Frage, was passieren würde, wenn wir die überall herumstehenden Industrieruinen zum Erzählen einladen würden, wie wir es tun mit den sanktionierten Ruinen. Wo diese, eine gewisse, mittlere Prominenz vorausgesetzt, mit Scharen von Historiographen rechnen können, die ihnen ihre Geschichte zu entlocken wissen, so dass sie zu reden anfangen – alle sanktionierten Ruinen sind redende Ruinen – bleiben diese Ruinen im wesentlichen stumm.

Nichtsdestoweniger ist diese Sprachlosigkeit offenbar nicht einseitig die Schuld der (ausgebliebenen) Experten, sondern hat ihren Grund an einer Grenze, die so leicht nicht überschritten werden kann, ohne dass es uns das Wort verschlägt. Der stumme Nekrolog, den wir diesen Ruinen allenfalls entlocken könnten, müßte der Idee nach ja einen Arbeits-Aufwand umfassen – das unermessliche Reservoir der poros, peine vieler Generationen – der erstmals in der menschlichen Geschichte keine nennenswerten Spuren, keine „Schichten“ hinterlassen hatte, denen sich noch eine „Physiognomie“ zusprechen lassen könnte. Die Schichten der industriellen „Hinterlassenschaft“ sind wesentlich neutral, verwechselbar, anonym, sie bilden nicht viel mehr als Müll. Und ähnlich wie die Dinge selbst schien auch der ungeheure Arbeitsaufwand, der darauf verwendet worden war – der geschichtlich größte Arbeitsaufwand überhaupt – dazu verdammt zu sein, dem Vergessen überantwortet zu werden, sich als vergeblich, als verschwendet, als „unnütz“ einzubekennen. Nicht mehr der natürliche Verfall der produzierten Dinge bildete seine Grenze, vielmehr war er für diesen Verfall – für den Verschleiß, die „Konsumption“ – bereits ins Werk gesetzt worden.

Das heißt natürlich nicht, dass die Historie des („schuftenden“) Industrieproletariats nicht aufgearbeitet worden wäre. Sie füllt bekanntlich ganze Bibliotheken. Aber es erging dieser Geschichte nicht viel anders wie allen übrigen Geschichten, die aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext herauszufallen und eine Art von Unfall, von Verkehrsunfall auf der breiten gangway der Universalgeschichte darzustellen scheinen: sie wurde isoliert, der geschichtlich-gesellschaftlichen Kontinuität, die sie auf eigentümliche Weise unterbrochen hatte, entrissen und verfiel damit derselben Amnesie, wie sie nach einem Schockereignis eintritt.

Dass diese Ruinen ihre „Erzählung“ bisher schuldig bleiben mussten, ist in gewissem Sinne vielleicht aber auch ermutigend. Mit Versuchen, wie sie gewisse Romanciers des 19. Jahrhunderts hinterlassen haben – Victor Hugo, Charles Dickens, Emile Zola – wäre ihrer Geschichte heute nicht mehr beizukommen. Sie ist ja bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen und gehört vielleicht zu den Geschichten, die wir uns überhaupt erst zu erzählen wüßten, wenn wir sie erzählen müssen, weil ein andere Weg der gesellschaftlicher Selbstverständigung nicht mehr übrig bleibt.

Wie mir ein Prospekt verriet, der mir per Zufall in die Hand fiel, ist geplant, in diesen Ruinen demnächst eine Reihe luxuriöser Eigentumswohnungen einzurichten. Sogar die Baupläne liegen bereits vor. Es ist der bekannte Versuch, die Schönheit ehemals peinigender Schaustücke teils zu erhalten, teils mit einer aseptischen Isolierschicht zu überziehen. Aber Vermummung und Mumifizierung lassen sich ja nicht säuberlich trennen, und so besteht zumindest eine – sei es auch geringe – Aussicht, dass auch diese Ruinen eines Tages zu reden anfangen, weil ein noch unbekannter Archäologe ihnen ein „Mundstück“ zugespielt hat.

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aus: Wolfgang Kaempfer, Der stehende Sturm (Berlin 2005, pp. 245-247)

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